Das Massaker von My Lai (2024)

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Für die Übergriffe der amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg ist das Massaker im Dorf My Lai zum Symbol geworden. Im März 1968 ermordeten sie Hunderte wehrlose Frauen, Männer, Kinder, Alte. My Lai wird bis heute vielfach noch als extremer Einzelfall bewertet. Nun hat der Hamburger Zeithistoriker Bernd Greiner erstmals zwei umfangreiche Quellenbestände in den US-amerikanischen National Archives vollständig erforscht. Sie enthalten detaillierte Dokumente, nicht über My Lai, sondern über zahlreiche weitere Übergriffe von US-Soldaten in Vietnam.

Moderation: Christoph Schmitz | 17.01.2008

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    Christoph Schmitz: Wie groß ist der Umfang der amerikanischen Massaker, Folterungen und anderer Menschen und Kriegsrechtsverletzungen gewesen, habe ich Bernd Greiner gefragt.

    Bernd Greiner: Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass das allseits bekannte Massaker von My Lai, verübt am 16. März 1968, mit über 500 getöteten Zivilisten beileibe keine Ausnahme war. Es gab Dutzende anderer Massaker, nicht unbedingt in der Größenordnung von My Lai. Aber es summiert sich, wenn wir die Opferzahl in den Blick nehmen, nach einer konservativen Schätzung doch auf mehrere 10.000. Man wird nie genau feststellen können, wie viel Opfer tatsächlich unter diesen Übergriffen zu Schaden gekommen sind oder getötet wurden. Die Wahrheit liegt buchstäblich im Grauen, weil auch die Aktenüberlieferung trotz dieser umfangreichen Bestände, die ich für mein Buch habe auswerten können, doch sehr rudimentär ist.

    Schmitz: Eine Dunkelziffer kann man nicht benennen, weil die meisten Fälle möglicherweise verschwiegen worden sind, unterdrückt wurden in der Aufarbeitung?

    Greiner: Unter den Teppich gekehrt, nie gemeldet, nie von irgendwelchen Journalisten recherchiert und von der Army nicht thematisiert.

    Schmitz: Das heißt, My Lai war in der Intensität, der Brutalität auch kein Einzelfall. Wie kann man sich diese furchtbare Gewalt, die Übergriffe, die Verstümmelungen, Morde erklären?

    Greiner: Ich habe versucht, in meinem Buch eine Erklärung dahingehend zu geben, dass ich nicht nur die individuellen Soldaten, die unmittelbar für diese Übergriffe verantwortlich sind, in den Blick nehme, sondern die Befehlskette thematisiere. Die Befehlskette, die beginnt im Weißen Haus, im Pentagon, die sich fortsetzt über das Oberkommando, über das militärische Oberkommando in Saigon, bis hin zu den Kommandeuren auf der mittleren Ebene, den unmittelbar für die Truppenführung verantwortlichen Offizieren. Und da kann man in der Tat feststellen, dass ein Gutteil der Verantwortung für diese Übergriffe gerade bei dieser mittleren Ebene liegt, die zum Beispiel im Vorfeld zu dem Massaker in My Lai ihre Einsatzrichtlinien, die auf den Schutz von Zivilisten ausgelegt waren, phasenweise außer Kraft gesetzt haben, mit der Vorgabe, wir müssen jetzt alles tun, um sozusagen in letzter Stunde diesem Krieg noch eine für uns positive Wendung zu geben.

    Schmitz: Die Exzesse waren keinen spontanen Übergriffe, sondern waren systematische Kriegsführung?

    Greiner: Spontane Übergriffe hat es natürlich auch gegeben, sehr viele sogar. Aber man wird das, was dort vorgefallen ist, nicht verstehen können, wenn man nicht die Politik, die Interessen, die Vorgaben, teilweise die expliziten Befehle seitens der militärischen Führung außer Acht lässt.
    Schmitz: Das heißt, die USA sind in diesen brutalen Krieg nicht hineingeschlittert, sondern das war ein Konzept?

    Greiner: Es war ein Konzept auf politisch-strategischer Ebene, auf militär-strategischer Ebene, dass sich zum Beispiel, das erklärt auch den großen Teil dieser Opferzahlen, auf eine Politik des Bodycount als Erfolgskriterium verlegt, will heißen, je mehr getötete Vietnamesen, desto höher ist vermeintlich der Kriegserfolg. Und am Ende machte es keinen Unterschied mehr, wer in diese Statistiken aufgenommen worden ist, ob es Zivilisten waren oder tatsächlich Guerillas.

    Schmitz: Dahinter steckt ja die Angst vor dem Domino-Effekt. Wenn man Vietnam verliert, dann kippt der ganze fernöstliche Bereich in den Kommunismus hinein?

    Greiner: Domino-Effekt, Domino-Theorie ist ein Teil der Geschichte. Und der andere ist, dass man relativ frühzeitig seine Glaubwürdigkeit in Vietnam aufs Spiel gesetzt hatte. Man hatte im Grunde genommen symbolisches Kapital investiert und sich in eine Falle begeben, aus der man aus politischen Gründen nicht mehr herauskam. Wer behauptet, Vietnam sei für die eigene Gesellschaft überlebenswichtig, der muss irgendwann bedienen. Und das ist genau ist passiert.

    Schmitz: Wie kommt es, dass die Quellen, die Sie gesichtet haben in den National Archives, außer von Ihnen bisher noch nicht systematisch erforscht worden sind?

    Greiner: Ich will zwei Gründe nennen aus einer Vielzahl von möglichen. Der eine ist, dass Vietnam in den USA selbst immer noch eine offene Wunde ist. Man will da nicht so recht ran an dieses Thema, zumindest nicht an die Seite der dort begangenen Kriegsverbrechen. Und das Zweite: In der Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren eine Tendenz, es wird allmählich revidiert, aber lange Zeit durchgesetzt unter dem Stichwort der kulturalistischen Wende. Da wurde sehr vieles über den Krieg thematisiert, Krieg und Literatur, Krieg in Filmen, Krieg in seiner kulturellen Repräsentation im weitesten Sinne. Aber man hat durch diesen Blick auf die kulturellen Phänomene vernachlässigt, was vor Ort, on the ground, wie die Amerikaner sagen, tatsächlich passiert ist.

    Schmitz: Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung über die bisher unbekannte Dimension der amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam. "Krieg ohne Frieden", so heißt Greiners Publikation.

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    Author: Laurine Ryan

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