Das Massaker von My Lai (2024)

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Vietnam, 16. März 1968, Provinz Quang Ngai, Gemarkung Son My: Gegen 7.30 Uhr werden die "Charlie"- und "Bravo"-Kompanie der US-Sondereinheit "Task Force Barker" in der Nähe dreier Dörfer von Transporthubschraubern abgesetzt. Ihr Auftrag: die küstennahe Region der Provinz "durchkämmen", ein Kampfbataillon des Vietcong, das 48. VC Local Force Battalion, aufspüren und politische Funktionäre der Nationalen Befreiungsbewegung dingfest machen.

Die C Company rückt in die Dörfer Xom Lang und Binh Tay ein, ein Platoon der B Company umstellt My Hoi, Siedlungen, die auf amerikanischen Militärkarten als "My Lai (4)" und "My Khe (4)" verzeichnet sind. Auf die GIs wird kein einziger Schuss abgegeben, Bewaffnete sind nirgendwo zu sehen, die GIs wissen vom ersten Moment an, dass ihnen Zivilisten gegenüberstehen. Die Bilanz nach zweieinhalb Stunden: Zwischen 490 und 520 Ermordete, einige sind erst wenige Wochen alt, manche im Greisenalter, die meisten sind Bauern mittleren Alters. Amerikanische Verluste: Keine. Erbeutete Waffen: Angeblich vier.

Die Schlächterei vom 16. März 1968 ist als My-Lai-Massaker in die Geschichte eingegangen. Vermutlich hat keine andere amerikanische Einheit binnen weniger Stunden derart viele Unbeteiligte gemeuchelt wie die "Task Force Barker". Dass es in den Jahren 1967 bis 1971 zahlreiche weitere Massaker gegeben hat, steht indes außer Frage. Wie viele Menschen dabei getötet wurden, wird nie zu ermitteln sein - Tausende waren es in jedem Fall, möglicherweise liegt die Zahl der Opfer sogar im fünfstelligen Bereich. Und von einer systematischen Ausweitung der Kampfzone auf die Zivilbevölkerung zu sprechen, ist in jedem Fall angebracht.

Kämpfer wurden zu Schlächtern

Woher rührt diese Gewaltbereitschaft? Welche Faktoren mussten zusammenkommen, um aus regulären Einheiten marodierende Haufen zu machen? Wie ist zu erklären, dass sich Soldaten wiederholt nicht wie Kämpfer verhielten, sondern wie Schlächter auftraten - wissend, dass sie Unbewaffnete vor sich hatten, Frauen, Kinder und Alte? So unterschiedlich die Antworten im Einzelfall ausfallen mögen, am Beispiel My Lai werden Umstände deutlich, die auch andernorts eine Rolle gespielt haben und erklären, warum der Krieg im Jahr 1968 in seine blutigste Phase trat.

Das Jahr 1968 hatte für die USA mit einer bösen Überraschung begonnen. An die 80.000 Guerillas und ein paar Tausend nordvietnamesische Truppen attackierten Ende Januar im Zuge der "Tet"-Offensive alle militärisch und infrastrukturell wichtigen Ziele, darunter fünf der sechs großen Städte im Süden, 36 von 44 Provinzhauptstädten und 64 lokale Verwaltungszentren. In der Hauptstadt Saigon drang ein neunzehnköpfiges Selbstmordkommando auf das Gelände der amerikanischen Botschaft vor, andere Stoßtrupps griffen den Präsidentenpalast, den Flughafen und das Hauptquartier der US-Streitkräfte an. Saigon war nach wenigen Stunden wieder unter Kontrolle der Regierungstruppen. Rund um Ben Tre, Hauptstadt der Provinz Kien Hoa, fielen jedoch alle 27 Verteidigungsstellungen. Hue blieb gar drei Wochen lang in der Hand feindlicher Einheiten.

Doch die kommunistischen Einheiten bezahlten ihren Coup mit einem exorbitanten Blutzoll. Zwischen Januar und März 1968 verloren die Guerilla allein in der Nähe des 17. Breitengrades fast zwei Drittel ihrer Mannschaften durch Tod, nachhaltige Verwundungen oder Gefangennahme. Rechnet man den Aderlass bis Herbst 1968 hinzu, ist von Verlusten zwischen 50.000 und 100.000 Mann auszugehen - bei einer Truppe, die auf dem Höhepunkt des Krieges maximal 240.000 Soldaten umfasste.

Einladung zur unbefristeten Willkür

Das amerikanische Oberkommando um William C. Westmoreland interpretierte dieses Desaster des Feindes als einmalige Gelegenheit, dem fast verloren geglaubten Krieg doch noch eine entscheidende Wende geben zu können. Aus einem Schreiben an alle in Vietnam kommandierenden Generäle: "Wir müssen jetzt den maximalen Vorteil aus der gegenwärtigen Situation ziehen und den Feind unnachgiebig unter Druck setzen. [...] Wir dürfen die Gelegenheit nicht verpassen."

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Dementsprechend gab Westmoreland im Februar 1968 seinen Truppen eine beispiellose Handlungsfreiheit - indem er die Schutzbestimmungen für Zivilisten und deren beweglichen wie unbeweglichen Besitz vorübergehend außer Kraft setzte. Abweichend von den gemeinhin gültigen Einsatzrichtlinien durften Truppenführer in besonders umkämpften Regionen fortan Dörfer und Städte ohne vorherige Rücksprache sowie mit Waffen und Verbänden ihrer Wahl angreifen. Westmorelands befristete Erlaubnis kam einer Einladung zur unbefristeten Willkür gleich.

Auch die Offiziere der "Task Force Barker" konnten nach eigenem Gutdünken vorgehen - eine lang ersehnte Gelegenheit, sich in Szene zu setzen und der eigenen Karriere taugliche Erfolge vorzulegen. Truppenführer, die den Handlungs- und Zeitdruck ihres Oberkommandos teilten oder nicht in Frage stellen wollten, radikalisierten die Vorgaben Westmorelands auf ihre Weise - allen voran der Chef der C Company, "Task Force Barker", Ernest Medina.

"Hinterlasse einen Beweis von Kampfeslust"

Nicht-Kombattanten waren in Medinas Vorstellungswelt entweder nicht vorhanden oder schlicht irrelevant. Nachdem er am Nachmittag des 15. März eine halbstündige Unterweisung der Truppe beendet hatte, wollten einige GIs wissen, ob er tatsächlich Frauen und Kinder als Feinde bezeichnet hatte - und ob eine Lizenz oder ein Befehl zum Mord an Zivilisten vorlag. Indem Medina eine eindeutige Antwort verweigerte, gab er eine unmissverständliche Auskunft. Rücksichtnahme war bei diesem Einsatz nicht gefragt. Sie sollten in My Lai alle Feinde töten. Und wen sie für den Feind hielten, blieb der Entscheidung jedes Einzelnen überlassen.

Es war ein Spiel mit der Frustration einer Truppe, die seit Februar 100 Mann oder gut 20 Prozent ihres ursprünglichen Bestandes durch Minen und Sprengfallen verloren hatte, ein Spiel mit den Phantasien kaum 20-jähriger Soldaten, die hohe Verluste erlitten, aber keine erkennbaren Erfolge erzielt hatten - und die sich als Versager sahen und diese Scharte unbedingt auswetzen wollten.

Es dem Vietcong heimzuzahlen, hieß aus ihrer Perspektive, Rache an allen zu nehmen, die für den Tod in Hinterhalten verantwortlich gemacht wurden oder dafür, dass man sich überhaupt im Dschungel quälen musste. "Do something physical" lautete ihre Parole - hinterlasse einen Beweis von Kampfeslust, von überwundener Kränkung, von Überlegenheit und Macht. "Der bloße Gedanke an den nächsten Tag ließ bereits das Adrenalin fließen. Endlich würden wir tun können, wofür wir hier waren. Endlich, endlich würde es passieren", so ein Beteiligter über die Stimmung der Truppe am Abend des 15. März 1968. Zwölf Stunden später fielen sie in die Dörfer der Gemarkung Son My ein.

Der Autor, Prof. Dr. Bernd Greiner, ist Historiker und lehrt am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg. Seit 1994 leitet er den Arbeitsbereich "Theorie und Geschichte der Gewalt" am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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Author: Greg Kuvalis

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